Marathon


„Nächster Halt Saalbahnhof“. Das gilt mir. Ich versuche aufzustehen. Mist. Hoffentlich schaffe ich es rechtzeitig bis zur Waggontür.

Fürs Laufen habe ich mich eigentlich nie interessiert. Langweilig, so die Erinnerung an den Sportunterricht in der Schule vor Jahrzehnten. Lieber Fahrradfahren. Auch weite Strecken. Da kommt man wenigstens vorwärts und man sieht mehr.
Dann hatte meine Tochter vom Fußballtrainer in den Herbstferien die „Hausaufgabe“, jeden zweiten Abend zwischen 20 und 30 Minuten zu laufen. Damit sie abends im Dunklen nicht allein laufen muss, bin ich mitgelaufen. Nach den Herbstferien hat sie damit aufgehört, ich habe weiter gemacht. Man kann dabei nach einem Arbeitstag wunderbar abschalten.
Aus alle zwei Tage wurde dreimal in der Woche, aber auch das war zu oft. Irgendwann hat es sich dann bei zweimal in der Woche eingepegelt, meist einmal am Dienstag oder Mittwoch 6 Kilometer und am Sonnabend 12 Kilometer. Im Herbst 2011 lief ich die 15 km-Strecke des Kernberglaufs und landete im Mittelfeld. An einen Marathon dachte ich da noch nicht. Viel zu lang. Unmöglich. Und dann hatte ich an einem Sonnabend im Frühjahr 2012 jene verhängnisvolle Idee: Einfach mal loslaufen. Auf dem Saaleradweg nach Norden. Soweit ich komme.
Bis Camburg, reichlich 20 km, lief es erstaunlich gut. Auch in Großheringen fühlte ich mich noch ausreichend fit, um Bad Kösen in Angriff zu nehmen. Dort angekommen, war ich schon ziemlich matt, aber ich dachte, Naumburg ist noch drin. Diese letzten Kilometer wurden elend. Streckenweise musste ich gehen. In Naumburg ließ ich mich in einen Zug plumpsen, der gerade zur Abfahrt zurück in Richtung Jena bereitstand.
Ich habe es rechtzeitig bis zur Tür geschafft. Nur das Aufstehen und die ersten Schritte waren wirklich schwer.

Mist. Worauf habe ich mich da nur wieder eingelassen. Aus einer Plastiktüte habe ich gerade ein Stück Papier gezogen, mit einer vierstelligen Nummer in großer Schrift. Darüber in etwas kleinerer Schrift „Marathon“. Nach der Strecke Jena-Naumburg habe ich in einem Anflug von Größenwahn gedacht, das müsste doch nun drin sein. 50 Euro habe ich dafür gerade ausgegeben. Zuzüglich 30 Euro für den Zeitmesschip. Nur Verrückte tun so was. Nur Verrückte stehen am Wochenende, wo man auch mal Ausschlafen könnte, um 4 Uhr auf, fahren reichlich 100 km Auto und geben 80 Euro aus, nur um 42, nein sogar 43,5 Kilometer zu rennen. Tröstlich ist nur, dass ich offenbar nicht der einzige Verrückte bin. Um mich herum wimmelt es von Leuten, die genauso eine Plastiktüte haben wie ich.
Ich suche mir eine etwas ruhigere Ecke, um mich umzuziehen. Allein ist man hier natürlich nirgends. Um mich herum werden Brustgurte umgelegt, Smartphones konfiguriert und bei einem piepst es penetrant im Sekundentakt, bis er endlich den Knopf zum Ausschalten findet. Ein anderer schnallt sich einen Gürtel mit kleinen Fläschchen um, die an Handgranaten erinnern. Ich habe nichts von alledem. Braucht man das? Ich komme mir vor, wie ein Schaf unter Wölfen.
Scheinbar bin ich unter eine Gruppe von Leistungssportlern geraten, die vielleicht einen der vorderen Plätze als Ziel haben. Mein Ziel ist einfach: Lebend ankommen.
Stück für Stück verschwindet meine normale Kleidung in dem großen gelben Plastiksack und mit ihr die Beweise meiner bürgerlichen Existenz: Ausweis, Fahrerlaubnis, Geldkarte, Autoschlüssel. Was ist ein Deutscher ohne seinen Ausweis? Als Ausweis muss für die nächsten Stunden jenes Stück Papier reichen, jetzt bin ich nur noch der Läufer 6952. Hoffentlich geht der Plastiksack nicht verloren, denke ich, als dieser in einem Haufen von gleich aussehenden Plastiksäcken auf einem LKW verschwindet.
Leicht fröstelnd suche ich eine Toilette. Das Frösteln ist Absicht. Ich hoffe, dass meine Rechnung aufgeht: Wenn ich jetzt friere, ist es nachher beim Laufen genau richtig. An der Toilette steht eine riesige Schlange. Wenn 3000 Leute kurz vor dem Start noch mal wollen, lässt sich das kaum vermeiden. Aber ich habe Glück: Da ich nur pinkeln will kann ich an der Schlange vorbei gehen. Bei den Männern muss nur anstehen, wer größeres vorhat.
Im Startbereich laufe ich mich, wie viele andere, noch etwas warm. Der Bühnensprecher versucht derweil die Zeit bis zum offiziellen Beginn mit allerlei Anekdoten zu überbrücken. Ich versuche in der Menschenmasse einen Platz am Anfang des letzten Drittels zu finden, was gar nicht so leicht ist, weil man die Masse an Menschen kaum überblicken kann. Hier sind nicht nur Leistungssportler. Sondern Menschen wie ich. Bei manchen würde man nicht unbedingt vermuten, dass sie einen Marathon laufen. Wie zum Beispiel jener ältere Mann. So wie er leicht hinkend und gebückt läuft, würde man ihn im Alltag eher fragen, ob man ihm über die Straße helfen kann.
Der offizielle Teil beginnt mit Schneewalzer und schunkeln. Gut, dass mich keiner sieht, der mich kennt. Aber egal, es ist ohnehin Ausnahmezustand. Von einem Hubschrauber aus wird das Ganze gefilmt.
Der Startschuss. Natürlich passiert hier hinten erst einmal nichts. Ganz langsam kommt die Menschenmasse in Gang, selbst kurz vor dem Starttor geht es noch im Schritttempo. Die Induktionsschleife piepst im Dauerton. Als Softwareentwickler weiß ich, was für eine technische Meisterleistung die Auswertung der Signale ist, wenn dutzende Läuferchips gleichzeitig antworten. Noch im Starttor geht es in den Laufschritt über. Erst mal durch den Ort bergauf. Am Straßenrand stehen hunderte von Zuschauern: Einwohner, Kinder und Angehörige von Läufern. Eine richtige Volksfeststimmung.
Ich überhole einige Läufer. Ich kenne das schon, an Anfang laufe ich eher schnell. Zu schnell. Die Straße ist voll von Läufern. Oben im Ort wird die Straße breiter und es verteilt sich. Und später im Wald verebbt der Lärm und es ist nur noch das Getrappel von tausenden Laufschuhen auf dem Asphalt zu hören. Am Straßenrand stehen die ersten, die es vor dem Start nicht mehr auf die Toilette geschafft haben, eine Läuferin kämpft sich etwas tiefer ins Unterholz...
Die erste Getränkestelle. Die Helfer hier haben es am schwersten, das Läuferfeld ist noch dicht gedrängt. Innerhalb von 10 Minuten muss das gesamte Feld, 3000 Läufer, versorgt werden. Aber es ist super organisiert. Ein Becher Tee, ich kann ihn im Laufen trinken und später in einen der an der Strecke aufgestellten Container werfen.
Der Weg wird schmaler. 6 Kilometer sind geschafft. Vor mir witzeln zwei, dass es nicht mal mehr 40 Kilometer sind. Andere quatschen miteinander, als wären sie in der Kneipe. Ich hätte nicht die Luft dafür.
Nach gerade mal 5 Kilometern kommt die nächste Verpflegungsstelle. Ein Stück Brot, ein Stück Banane, ein Becher Cola und weiter. Noch fühle ich mich frisch, aber es ist ja gerade mal ein Viertel der Strecke vorbei. Meine Rechnung bezüglich der Bekleidung ist aufgegangen, mir ist warm, aber nicht zu warm.
Streckenweise geht es steiler bergauf. Manche gehen, andere, wie ich, laufen lieber. Nicht ganz einfach, das Überholen auf diesen schmalen Wegen.
Irgendwann zweige ich auch noch mal ab, in den Wald. Bis ich zurück bin, laufen auf dem Weg sicher 100 Läufer vorbei. Im Ziel machen die 2 Minuten doch sicher nur 10 oder 15 Läufer aus? Muss ich die nun alle wieder überholen? Das Denken während des Laufens fällt schwer, ich komme zu keinem Ergebnis.
Der Eselsberg, ein Höhepunkt. Nicht nur wegen der Verpflegungsstelle, sondern auch topografisch: Es ist der höchste Punkt der Strecke. Von nun an geht's bergab. Zuerst über eine Treppe, an der man anstehen muss. Sie ist so schmal, dass sie nur im Gänsemarsch begangen werden kann. Dann ein Hohlweg. Man muss aufpssen, dass man nicht zu sehr ins Rennen kommt und über die Wurzeln stolpert. Mit den mittlerweile ziemlich mitgenommenen Gelenken und Muskeln nicht ganz leicht. Die Bergwacht hat scheinbar ihre Erfahrungen und hier schon mal einen Rot-Kreuz-Stützpunkt aufgestellt.
Irgendwo hier ist auch die Halbmarathonzeitnahme. Es piept, als ich, diesmal allein, durchlaufe. Der Chip an meinem Laufschuh ist also in Ordnung. Die Uhr zeigt 02:11:02. Wenn ich mit der Geschwindigkeit weiterlaufen würde, hätte ich eine Zeit von weniger als viereinhalb Stunden. Illusorisch.
Ein weiterer Getränkepunkt. Irgendwie will ich schneller trinken, als ich schlucken kann. Ich kleckere mich voll, egal. Auf dem nächsten Stück kann man zwischen einem Wiesenweg und der Asphaltstraße wählen. Ich wechsle ein paarmal hin und her. Je nachdem, wo ich laufe, denke ich, dass die andere Variante günstiger wäre.
Ein kleiner Ort, ein Fahrradweg durch die Wiesen. Ein Fotograf steht am Rand und fotografiert die Läufer. Sicher kann man die Bilder später kaufen. Ich bin gespannt, wie die werden, sehr frisch sehe ich darauf bestimmt nicht mehr aus.
Die Verpflegungsstelle in Neustadt wird autobahnabfahrtsmäßig mit 1000- und 500-Meter-Schild angekündigt. Kinder stehen am Straßenrand und klatschen die Läufer ab. Das gibt Kraft für die letzten Meter bergauf bis zum Verpflegungspunkt. Endlich mal stehen bleiben. Zwei Wurstbrote. Ein Stück Banane. Ein Becher Tee.
Zwei Drittel sind geschafft. Ich komme nur schwer wieder in Gang. Die Strecke fordert ihren Tribut. Zwar war Naumburg fast genauso weit, aber hier geht es bergauf und bergab. Zum Glück hinter Neustadt über die Wiesen erst mal letzteres. Trotzdem freue ich mich, so komisch es klingt, auf den Burgberg. Da in der Streckenbeschreibung stand, dass es die meisten hier tun, ist es hier vor mir selbst legitim, im Schritt zu gehen. Bisher bin ich alle Anstiege gelaufen.
Wieder komme ich schwer in Gang, besonders weil die Steigung nicht abrupt endet, sondern allmählich, und man loslaufen muss, während es noch leicht bergauf geht. Eine Straße, dahinter ein Drehorgelspieler. Das sind hier so die kleinen Highlights am Rande der Strecke. Blaskapellen, völlig fremde Menschen, die dir zujubeln.
Seit etwa der Hälfte der Stecke ist die Läuferdichte auch auf schmalen Wegen kein Problem mehr. Dafür ist die Dichte der Verpflegungsstellen auf dem letzten Drittel etwas höher. Schon bald nach dem „Morast“ - zum Glück ist der Name nicht Programm - kommt der Dreiherrenstein und damit die vorletzte Verpflegungsstelle.
Eine weitere Zeitnahmestelle irgendwo bei Kilometer 35. Was ist das für eine seltsame Entfernung? Mir fällt nichts dazu ein. Weiter geht es leicht bergauf und bergab. Manche Anstiege gehe ich auch. Eine pummelige Läuferin überholt mich. Wenn man ihr im Alltag begegnen würde, käme man nie auf die Idee, dass diese Frau einen Marathon läuft. Mit der gleichmäßigen Kraft einer Diesellokomotive zieht sie vorbei. Ich kann nichts dagegen tun.
Die letzte Getränkestelle in Frauenwald ist schon von weitem zu hören. Ein Sprecher erzählt irgendwas von frisch aussehenden Läufern, die hier locker vorbeilaufen. Reine Ironie, wirklich elegant kommt hier keiner mehr an. Ein Becken mit Wasser, wo man sich das Gesicht abspülen kann. Ein Schluck Tee. Einen Schluck Köstritzer Schwarzbier könnte man hier auch bekommen, aber Alkohol wäre jetzt wohl der Knockout für mich.
Weiter geht's. Es geht schon lange nicht mehr um die Zeit. Oder um den Platz. Einfach nur laufen, laufen und weiterlaufen. Warten darauf, dass es doch endlich vorbei sein möge.
Nach der letzten Markierung mit der „39“ folgt nach einer etwas längeren Pause die „3“. Von nun an werden die Kilometer rückwärts gezählt. Von Schmiedefeld ist aber noch nichts zu sehen. Weiter geht es durch eine leichte Senke. Auch die „2“ ist noch so ziemlich im Wald. Aber dann wird der Weg doch straßenähnlich, Autos parken am Rand. Ein kurzes Stück steil bergab, dann eine scharfe Linkskurve. Plötzlich ist man im Ort, auf dem Bürgersteig parallel zur Hauptstraße. Noch eine Zwischenzeitnahme, die reguläre Marathonstrecke mit 42,195 Kilometern Länge.
Ein Polizist hält den Verkehr an. Druckluftbremsenzischend kommt ein Sattelschlepper zum Stehen. Alles nur für mich, damit ich die Straße überqueren kann. Meine Sorge ist indessen, dass ich an der Bordsteinkante auf der anderen Straßenseite die Füße hochkriege und mich nicht der Länge nach hinlege.
Runter zum Bahnhof. Hier soll es früher vorgekommen sein, dass die Schranke zu war und die Läufer warten mussten. Die Gefahr besteht nicht mehr. Die Gleise sind rostig, hier ist schon lange kein Zug mehr gefahren.
Aus einer Menschengruppe höre ich plötzlich meinen Namen. Ein Arbeitskollege winkt mir zu. Er ist den Halbmarathon gelaufen, fällt mir ein. „Bravo!“ Ich winke matt zurück.
Die Reitallee. Ein Pferd wäre jetzt recht. Nochmal 90 Höhenmeter bergauf, glaube ich mich zu erinnern. Ein letzter Rest Ehrgeiz gebietet mir, dieses letzte Stück im Laufschritt zurückzulegen. Egal wie langsam. Am Rand stehen Menschen und spornen einen an, weiter zu laufen. Man darf sie nicht enttäuschen.
Es zieht sich elend hin. Aber dann kommt das Ziel in Sicht. Endlich! Nein! Nur eine leichte Rechtskurve. Es geht weiter, leicht bergauf. Ist dieser Lauf denn nie zu Ende?
Eine scharfe Linkskurve. Jetzt geht es leicht bergab. Da vorne schießen irgendwelche Läufer quer vorbei. Die vom Supermarathon? Noch eine Linkskurve. Und da sehen ich es endlich. „ZIEL“. Dieser Lauf hat tatsächlich ein Ziel, ein Ende, fast hätte ich es nicht mehr geglaubt. Zwei Induktionsschleifen sind zu überqueren, zweimal piept es. Ich werde langsamer. Ich muss nicht mehr laufen. Ich darf stehen bleiben.
Mühsam bücke ich mich etwas, damit mir ein Mädchen das Band mit einer Medaille über den Kopf streifen kann. Eine goldene Medaille. Jeder, der hier ankommt, ist ein Sieger. Egal ob der erste oder der dreitausendste.
Getränke bekommt man hier im Zielbereich noch kostenlos. Hier ist sozusagen die letzte Verpflegungsstelle. Mit zwei Bechern Cola in der Hand suche ich nach einer Sitzgelegenheit. Es gibt keine. In der Nähe des Zaunes finde ich noch einen freien Fleck auf dem Erdboden. Wenn es mit dem Aufstehen schwierig wird, kann ich mich hier wenigstens am Zaun hochziehen.
Das Gepäck gibt es auf der „Gepäckwiese“. Die gelben Beutel sind hier in Hunderter-Startnummernblöcken sortiert. So ist der eigene Beutel schnell gefunden. Alles noch da. Endlich kann ich meine verschwitzten Sachen gegen neue aus dem Beutel tauschen. So langsam werde ich wieder ein Mensch.
Noch eine Bratwurst oben auf dem Festplatz. Den Chip für die Zeitnahme gebe ich zurück. 5 Euro werden vom Pfand als Miete einbehalten. Man könnte ihn auch behalten, nach 6 Läufen wäre der Break-even-Point erreicht. Nein, einmal und nie wieder. Die Reitallee runter zu den Bussen. Noch immer kommen hier Läufer hoch, auch jener Mann, dem ich im Alltag über die Straße geholfen hätte. Er bekommt besonders viel Applaus.

Erfahrene Rennsteigläufer ahnen es vielleicht: Den Chip hätte ich wohl besser behalten. Es lässt einen nicht los. Es ist nun mal so: Das schönste Ziel der Welt, ist Schmiedefeld. Nach nunmehr 9 Rennsteigläufen wäre ich inzwischen in der Gewinnzone.